Jeden Morgen geht die Sonne auf

Als Klaus Nagorni (evangelische Kirche, Karlsruhe) am 30. Oktober 2022 im SWR in der Sendung „Lied zum Sonntag“ über Jeden Morgen geht die Sonne auf sprach, erinnerte er unter anderem an Nachtwanderungen in seiner Jugendzeit und an die Tatsache, dass die Sonne in ihrem Tagesablauf etwas „Beständiges im Unbeständigen“ ist. Er erwähnte mit keinem Wort die mangelnde Qualität des Liedtextes und die schillernde Person des Textdichters Hermann Claudius (1878-1980), dessen Werke eng mit der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus verbunden sind. Selbst nach 1945 finden sie bis heute Aufnahme im rechtsextremistischen Milieu.

1. Jeden Morgen geht die Sonne auf (9,a)
in der Wälder wundersamer Runde. (10,b)
Und die schöne, scheue Schöpferstunde, (10,b)
jeden Morgen nimmt sie ihren Lauf. (9,a)

2. Jeden Morgen aus dem Wiesengrund (9,a)
heben weiße Schleier sich ins Licht, (9,b)
uns der Sonne Morgengang zu künden, (10,c)
ehe sie das Wolkentor durchbricht. (9,b)

3. Jeden Morgen durch des Waldes Hall’n  (9,a)
hebt der Hirsch sein mächtiges Geweih. (9,b)
Der Pirol und dann die Vöglein alle (10,c)
stimmen an die große Melodei. (9,b)

4. = 1.

Das Gedicht verwendet als Versmaß den Trochäischen Fünfheber mit wechselnder Silbenzahl (9 bzw.10). Wenn ein Gedicht als Lied vertont wird, sollte der Silbenzahlwechsel in jeder Strophe nach demselben Schema erfolgen. Bei diesem Text hat aber die erste Strophe eine eigene Ordnung.

Auch das Reimschema sollte in jeder Strophe gleich sein. Mit abba – abcb – abcb ist das jedoch nicht der Fall. Die erste Strophe zeigt eine andere Reihenfolge als die übrigen. Als Ersatz für die geänderte bietet der Dichter in der zweiten und dritten Zeile zwei Alliterationen an: Wälder wundersamer Runde – schöne, scheue Schöpferstunde. Das Wort Morgen wird in den vier Strophen insgesamt siebenmal verwendet. Der Pirol in der dritten Strophe verdankt seinen Platz im Gedicht der Tatsache, dass er auf der zweiten Silbe betont wird. Ansonsten wären hier Rotkehlchen, Amsel, Blaumeise oder Kohlmeise als erste unter den Frühaufstehern zu nennen. An der Endung von Melodei ist der Hirsch mit seinem Geweih schuld. Dieses Wort gehört seit der Bachkantate „O angenehme Melodei“ von 1729 zu den veralteten Wörtern.

Gehört der Text des Morgenlieds zu einem geistlichen (Schöpferstunde?) oder eher zu einem weltlichen Morgenlied? Ein Kinderlied ist es sicher nicht (siehe Pirol!). Wer erlebt auf diese Weise den Sonnenaufgang? Das sind hauptsächlich Jugendliche auf ihren Nachtwanderungen (siehe Nagorni!). Was würden sie zu einem Gedicht von Hermann Claudius sagen, das etwa zur selben Zeit (1938) wie das Morgenlied entstanden ist?

Herrgott, steh dem Führer bei,
dass sein Werk das Deine sei,
dass Dein Werk das seine sei.
Herrgott steh dem Führer bei.

Herrgott steh uns allen bei,
dass sein Werk das Unsre sei.
Unser Werk das seine sei.
Herrgott steh uns allen bei.

Das ist kein Kindervers, sondern ein Bittgebet für Adolf Hitler. Typisch für Hermann Claudius sind die Wiederholungen und die Beschränkung auf einen Endreim.

Dass das Morgenlied von Hermann Claudius nach 1950 dennoch einen Siegeszug angetreten hat, verdankt es der überzeugenden Melodie des Komponisten und Musikpädagogen Karl Marx (1897-1985). Sie gehört zu seinen bekanntesten Liedern.

Den Sonnenaufgang, das Heben der Nebelschleier und des mächtigen Geweihs verdeutlicht der Komponist durch eine aufsteigende Tonleiter im Raum einer Oktave. Der melodische Höhepunkt wird auf den Beginn der dritten Zeile mit schöne, Sonne und Pirol gelegt. Als Gegenpol zur ersten Zeile leitet eine ebenfalls aufsteigende, auf den Raum einer Sexte verkürzte Tonleiter zur Schlusskadenz über. Jede Zeile hat ihren eigenen Rhythmus, sodass man den zum Teil fehlenden Reim nicht vermisst. Geschickt umgeht Marx die geringere Silbenanzahl in der zweiten und dritten Strophe durch die Anbindung der nicht benötigten Note. Die Melodie nimmt ihren Lauf und die Vöglein stimmen ein.

Die Anzahl der Liederbücher, in denen das Lied erschienen ist, ist immens. Hier nur eine kleine Auswahl: Die Mundorgel (1953), Deutsche Lieder (1960), Albvereinsliederbuch (1974), Der Turm A (1974), Liederbuch SPD Hildesheim (ca. 1990), Liederbuch für Schleswig-Holstein. (2001), Poverello (2008), Toni singt – Buchpaket 1 (2009), Jurtenburg – Liederquelle (2010), Oldenburger Yacht-Club e.V. Hau-Ruck (2017).

Anton Stingl jun.