Atemlos durchs Gotteslob

„Bis der Himmel und die Erde vergehen, solch auch nicht ein Iota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen …“ (Mt 5,18). Da die Herausgeber des GOTTESLOB 2013 gegen dieses Gebot gehandelt haben, „sollen sie die Geringsten im Reich der Himmel heißen“. Von den 143 Liedern, die aus dem GOTTESLOB 1975 übernommen wurden, blieben nur 62 melodisch und rhythmisch unverändert. Bei 81 Liedern wurde vor allem die Zahl der Atemzeichen radikal verringert oder es wurden Pausen in Atemzeichen umgewandelt. Beide Veränderungen bedeuten einen starken Eingriff in den Rhythmus des jeweiligen Liedes. 20 Melodien sind glücklicherweise dem Kahlschlag entgangen, weil sie nur Pausenzeichen enthalten.

Was bedeutet eigentlich ein Atemzeichen? Ich habe mich immer auf folgende Definition berufen: Falls man den Grundschlag erhalten will, muss man auf Kosten der vorhergehenden Note atmen. Bei halben Noten ist das überhaupt kein Problem, bei Viertelnoten erfordert es schon sängerische Disziplin, besteht doch beim „gemeinen“ Volk die Neigung, die letzten Noten einer Zeile in konstanter Lautstärke übermäßig zu dehnen.

Außer der einfachen Streichung von Atemzeichen ist bei Melodien, die dem Typus des Lyoner oder Genfer Psalter folgen, die Umwandlung von Pausen in Atemstriche, wenn man meiner Atemtheorie folgt, äußerst problematisch. Da sich die Auffassung über Betonungen seit dem 16. Jahrhundert sehr geändert hat, und auch die jeweiligen Textdichter ihre ganz eigene Vorstellung davon haben, ist die generelle Verwandlung von Pausen in Atemzeichen nicht so einfach möglich.

Nehmen wir als Beispiel Nr. 186 Was uns die Erde Gutes spendet. Nach Auffassung des Texters Friedrich Dörr beginnen die erste und dritte Zeile mit Volltakt, die zweite und vierte dagegen mit Auftakt. Das geht aus dem Vergleich aller drei Strophen ganz klar hervor. Vor einem Auftakt muss aber eine betonte Taktzeit stehen, in unserem Fall also eine halbe Pause. Die Bearbeiter des GL 2013 zwängen aber die Melodie des Liedes in das Prokrustesbett eines Zweiertaktes. Durch Einsparung der Pausen in der ersten und dritten Zeile geht zwar rechnerisch alles auf, aber der tatsächliche Rhythmus des Liedes bleibt auf der Strecke. Es gibt hier eben keinen durchgehenden Zweiertakt, sondern in beiden Zeilen wird ein – in der ersten Zeile durch „Synkopen“ besonders reizvoller – Dreiertakt eingeschoben. Das GL 1975 hatte sich mit einem alla-breve-Zeichen elegant aus der Affäre gezogen.

Auch bei Nr. 143 Mein ganzes Herz erhebet sich erweist sich der Austausch von alla-breve-Zeichen gegen einen Zweiertakt als Rohrkrepierer. Mit einem durchgehenden Zweiertakt ergeben sich im ersten Teil ganz seltsame Betonungen: mein Loblied, mein Opfer. Wenn man bei der Wiederholung diese Takeinteilung beibehält, dann kehren sich die Betonungsverhältnisse um, d.h. fast alle Betonungen sind verkehrt. Wenn wir uns beim Beginn der dritten Zeile auf einen Auftakt einigen, klappt alles, bis ab Herrlichkeit wieder alle Betonungen verkehrt sind. Die Gesamtzählung der Zweiertakte würde auch dann erst korrekt mit der ganzen Note enden, wenn man die beiden halben Pausen wegließe. Aber irgendwann muss man doch richtig durchatmen dürfen! Trägt man die Taktstriche eines 2er-Taktes in die Noten ein, tritt das Durcheinander klar zu Tage.

GL 143

Wieder erweist sich die Fassung des GL 1975 als die klügere. Alla-breve-Takt und halbe Pausen nach jeder Zeile lassen die Melodie ungehindert in geordneten Bahnen strömen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man durch die Wegnahme von Pausen den Gesang der Gemeinde beschleunigen kann. Sie bewirkt nur eine Verunsicherung. Der Vorsatz, das Grundtempo zu beschleunigen ist grundsätzlich zu begrüßen, dann muss man aber auch genügend Zeit zum Atmen lassen. Wir sind in der Kirche und nicht auf der Flucht.

Wie dezent sind die Bearbeiter doch bei Nr. 332 Die ganze Welt, Herr Jesu Christ vorgegangen! Anstelle der durchgehenden 6/4-Taktstriche im GL 1975 und bei übersichtlicherer Verteilung auf vier statt drei Zeilen wird durch einen einzigen gestrichelten Taktstrich der Auftakt markiert. Aber wer nun erwartet hat, dass auch nach jeder Zeile bei eindeutiger Kadenz ein Atemstrichlein eingetragen wurde, wird herb enttäuscht. Der Strichphobie fiel hier wie auch sonst die Hälfte der Zeichen zum Opfer, was umso unverständlicher ist, als doch an diesen Stellen eine kurze Silbe steht, die die Verkürzung des Tons durch Atmen geradezu herausfordert. Auf den unbefangenen Betrachter wirkt es so, als hätten die Bearbeiter die Zeichen hier einfach vergessen. Hat man überhaupt von Seiten der Herausgeber irgendwo den Versuch gemacht, diese Radikalkur zu begründen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendwelche wildgeworden Kirchenmusiker der singenden Gemeinde endlich zeigen wollten, wo es lang geht. Seltsam ist, dass das EVANGELISCHE GESANGBUCH 1996, in dessen Verbreitungsgebiet bekanntlich viel flotter als im katholischen Bereich gesungen wird, bei allen vergleichbaren Liedern auch das letzte Atemstrichlein aus GL 1975 übernommen hat. Ein guter Gemeindegesang hängt offenbar nicht mit der Ausmerzung von Pausen und Atemzeichen zusammen. Da hilft nur beharrliche „Bildung“  – wo soll ich anfangen? – der Pfarrer, Organisten, Chorleiter, Kantoren, Chöre, Scholen, Singgruppen, Ministranten und nicht zuletzt aller Gottesdienstteilnehmer weiter, vielleicht unter dem Motto „Fünf Prozent“! Wir steigern zur Ehre Gottes und zur Freude der Gotteslobmacher von M.M. 60 auf M.M. 63!

Wozu braucht man überhaupt Atemzeichen? Darf man in jedem beliebigen Lied Atemstrichlein streichen oder neue einfügen? Gibt es kein Recht auf rhythmische Unversehrtheit? Nr. 360 Macht weit die Pforten in der Welt mit der Melodie von Adolf Lohmann wurde 1938 ohne ein einziges Atemzeichen im KIRCHENLED I veröffentlicht. Im gemeinsamen Anhang des GL 1975 für die Diözesen Freiburg und Rottenburg Nr. 802 wurden in der ersten Strophe hinter in der Welt bzw. sich gewandt, Einzug hält bzw. vom Todesschlafe stand, herrlich schreiten, zerstreut er Atemstriche gesetzt. Man spürt das Bemühen, in fast regelmäßigen Abständen Atem holen zu lassen, ohne Sinneinheiten auseinander zu reißen. Im GL 2013 wurde das erste Zeichen eingespart und das Zeichen hinter schreiten um einen Takt vorverlegt. Die „Kühnheit“ des Komponisten, an dieser Stelle fünf anstatt vier Takte zu komponieren, brachte die Strichsetzer in Verlegenheit. Soll man nach Texteinheiten 3 + 2 gliedern oder nach musikalischen Zusammenhängen 2 + 3? Ein Blick auf die übrigen vier Strophen gibt GL 2013 Recht. Die vier halben Noten sollen als musikalischer „Doppelpunkt“ für das Folgende wirken, außerdem fällt das Atmen nach einer halben Note leichter als nach einer Viertelnote. Unklar ist aber auch – wie bei allen anderen Liedern des GL 2013 – die Rolle des Schrägstrichs in den Textstrophen. Im Anhang 1975 zeigen kleine Striche die Atemzeichen und große Striche die Textgliederung an. Im GL 2013 wird da kein Unterschied mehr gemacht, und zudem – wie in allen Textstrophen des gesamten Buches – jede kleine Sinneinheit mit einem einheitlichen Querstrich abgetrennt. Konkret: In jeder Strophe behindern zehn Zeichen den Gesang. Soll man an all diesen Stellen atmen oder atemlos weitersingen?

Anton Stingl jun.

Am 1. Oktober 2014  schreibt Heinrich Landerer, 82380 Peißenberg:
Mit großer Freude lese ich Ihre Beiträge – vielen Dank dafür! Vorgestern trafen endlich die Orgelbücher zum Stammteil ein – meine Freude und Erwartung wurde getrübt. Als nebenamtlicher Kirchenmusiker, zahlreiche Aushilfen in verschiedenen Kirchen, kenne ich mich langsam nicht mehr aus – wegen der lieben Zäsuren. Im Orgelbuch stehen diese, in den Gesangbüchern nicht; z.B. 144, 149, 171, 239, 425, 436, 478, 489 usw… . In den vergangenen Wochen wurde öfter bemängelt, dass ich dem singenden Volk keine Zeit mehr zum Atmen lasse. Obwohl ich sicher nicht übertrieben habe! Denn wenn man 40 Jahre lang Lieder spielt, dann sind die Zäsuren nicht innerhalb weniger Wochen ganz aus dem Kopf verschwunden.
Deshalb habe ich den größten Kritikern Ihren Link empfohlen.
Vermutlich bin ich gut beraten, so zu spielen, wie gehabt…

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