In den Kirchenmusikalischen Mitteilungen der Erzdiözese Freiburg Nr. 87 vom Mai 2022 berichtet Meinrad Walter ausführlich über die Entstehungsgeschichte des Liedes Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen mit dem Text des Franziskanerpaters Helmut Schlegel und der Melodie von Kirchenmusiker Thomas Gabriel. Das Lied wurde 1998 zum 25. Jubiläum des Amts für Kirchenmusik aus der Taufe gehoben. Warum man sich nicht für die ursprüngliche Vertonung des Kirchenmusikers Winfried Heurich entschieden hat, wird in dem Artikel nicht begründet.
Vielleicht war es die Tonalität in Moll, die für die geplante Festmesse im Freiburger Münster am 3. Oktober als unpassend erschien. Vielleicht war es ein Problem mit dem Liedtext, das Heurich nicht lösen konnte. Helmut Schlegel, der sich für seinen Text vom „Aaronitischen Segen“ (Numeri 6,22-2) hat inspirieren lassen, wählte als Versmaß einen jambischen Fünfheber mit abwechselnd weiblicher und männlicher Endung. Ja und wo liegt das Problem? Auch Emanuel Schikaneder hat in der Zauberflöte für die Arie der Königin der Nacht dieses Versmaß ausgesucht.
Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen,
Tod und Verzweiflung flammet um mich her!
Fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen,
So bist du meine Tochter nimmermehr!
In den ersten drei Zeilen der Arie liegt die Hauptbetonung auf der zweiten Hebung, in der vierten Zeile aber auf der dritten Hebung. Für Mozart war es in der freieren Form der Arie kein Problem, in der vierten Zeile den musikalischen Höhepunkt auf die betonte Silbe der dritten Hebung zu legen. Aber bei einem Strophenlied, bei dem die Vertonung für die Hauptbetonung einer Zeile für alle Strophen festliegt, ist der Wechsel der Hauptbetonung für den Komponisten eine Katastrophe. Egal, wie er die Melodie erfindet, es ergeben sich zwangsläufig musikalische Fehlbetonungen. Im Folgenden sind in jeder Zeile des Liedes die Hauptbetonungen unterstrichen.
Kv: Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen,
er zeige freundlich dir sein Angesicht,
der Herr wird mit Erbarmen dir begegnen,
und leuchten soll dir seines Friedens Licht.
1) Der Herr ist Gott, er schuf das Universum,
er hauchte Leben ein in Meer und Land.
Er schuf auch dich und gab dir einen Namen.
Geschrieben stehen wir in Gottes Hand.
2) Gott segne dich mit seinem reichen Segen,
er schenke Wachstum, dort wo du gesät.
Vollenden möge er, was du begonnen,
wenn er zum Mahl des Gottesreiches lädt.
3) Behüten soll er dich und all die Deinen,
und täglich sollst du sehn, dass er dich liebt.
Er schütze dich mit seinen guten Händen,
und sei das Haus, das bergend dich umgibt.
4) Sein Angesicht soll brüderlich dir leuchten,
sein Licht erhelle deine Dunkelheit.
An seiner Liebe sollst du Feuer fangen
und Werkzeug sein für Gott in dieser Zeit.
5) Er schenke dir Vergebung und Erbarmen
und lösche aus, was dich von ihm entzweit.
Erheben sollst du dich und wieder atmen,
der Herr hat dich von aller Last befreit.
6) Der Herr soll dich mit seinem Blick begleiten;
dir Zeichen geben, dass du dankbar weißt:
Er lebt mit uns, wir alle sind Geschwister,
uns führt zusammen Jesu guter Geist.
7) Der Herr und Gott erfülle dich mit Frieden,
mit Lebensmut und mit Gerechtigkeit,
er öffne dir das Herz und auch die Hände,
dass selber du zum Frieden bist bereit.
Der Textdichter wechselt ohne erkennbaren Plan die Position der Hauptbetonung zwischen der ersten und zweiten Hebung. 20 Zeilen beginnen mit kurzem Auftakt, 12 mit einem langem. Für den Liedkomponisten ist das eine unlösbare Aufgabe. In der Melodie von Winfried Heurich beginnt jede der 32 Zeilen mit drei Achteln Auftakt. Das bedeutet, dass in 21 Zeilen die Hauptbetonung auf der ersten Hebung verfehlt wird.
Thomas Gabriel kann in seiner Neuvertonung durch den Wechsel von kurzen und langen Auftakten im Kehrvers seine Trefferquote erhöhen. Aber es bleiben immer noch 18 Fehlwürfe.
Im Folgenden wird gezeigt, dass das Wort mit der Hauptbetonung fast immer mit dem letzten Wort der Zeile korrespondiert. An wenigen Stellen konnten Missverständnisse geklärt werden.
Kv. 2 er zeige freundlich dir sein Angesicht. Besser wäre hier das originale gnädig.
Kv. 4 und leuchten soll dir seines Friedens Licht. Das Licht ist Zutat des Dichters.
1.4 Geschrieben stehen wir in Gottes Hand. Missverständliche Kombination von „Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“ (Jesaja 14,16) und „Gerechte und Weise sind in Gottes Hand“ (Kohelet 9,1).
2.1 Gott segne dich mit seinem reichen Segen,
2.2 er schenke Wachstum dort, wo du gesät.
2.3 Vollenden möge er, was du begonnen,
3.1 Behüten soll er dich und all die Deinen,
3.2 und täglich sollst du sehn, dass er dich liebt.
3.3 Er schütze dich mit seinen guten Händen,
4.1 Sein Angesicht soll brüderlich dir leuchten.
4.4 Und Werkzeug sein für Gott in dieser Zeit.
5.1 Er schenke dir Vergebung und Erbarmen
5.3 Erheben sollst du dich und wieder atmen,
5.4 Der Herr hat dich von aller Last befreit.
6.1 Der Herr soll dich mit seinem Blick begleiten,
6.2 dir Zeichen geben, dass du dankbar weißt.
6.3 Er lebt mit uns, wir alle sind Geschwister,
7.2 mit Lebensmut und mit Gerechtigkeit,
7.3 er öffne dir das Herz und auch die Hände,
7.4 dass selber du zum Frieden bist bereit. Üblich ist „du selber“ mit der Betonung auf selber.
Wenn Goethe sagt „In der Kunst ist das Beste gut genug“, dann ist das Lied „Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen“ keine Kunst, weil es nicht gut genug ist. Der Satz existiert auch in einem anderen Zusammenhang: „Für Gott ist nur das Beste gut genug“. Offenbar gibt es heutzutage in der Vorhalle des Tempels für die Welt der NGLs Erleichterungen. Lobet Gott mit leichten Liedern! Nicht jeder Theologe ist ein Liederdichter.
Weitere Beispiele siehe in „Der jambische Fünfheber in Kirchenliedern“.
Anton Stingl jun.