Da wird man doch neugierig, wenn Pater Johannes Paul Chavanne in seinem jüngst erschienen Buch „Wie der Himmel klingt“ vom „Eintauchen in die Musik der Stille mit dem Gregorianischen Choral“ erzählt. Und man ist gespannt, wie der Himmel wohl klingt, wenn er sich im Gregorianischen Choral materialisiert. Leider erhält man auf die Frage, wie dieses Ereignis in den Melodien des Gregorianischen Chorals zu Tage tritt, nur sehr wenige, meist sehr allgemein gehaltene Antworten:
„Den Gregorianischen Choral haben die ersten Mönche – so sagen einige frühen Autoren – den Engeln abgelauscht“ (S. 41).
„Choral kommt aus der Stille und führt wieder in die Stille zurück.“ ‒
„Musik, die nichts anderes sein will als Ausdruck der Schönheit Gottes.“
„Hören von Choralmusik hat blutdrucksenkende Wirkung.“ (S. 35)
Es gibt keine Choral-„Musik“, selbst die Zisterzienser in Heiligenkreuz singen ohne Instrumentalbegleitung. Pater Johannes sagt von sich selbst: „Ich bin vor allem Praktiker des Gregorianischen Chorals“. Da kommt es ihm auf wissenschaftliche Feinheiten nicht so an:
„Noch heute werden in professionellen Ausgaben für Choralstücke die Neumen aus den ältesten Handschriften über die Notenlinien mit den heute üblichen Quadratnotationen geschrieben. Einerseits lässt sich so, wenn die Quelle der Neumenhandschrift angegeben ist, das Alter des jeweiligen Stückes feststellen und andererseits kann das geschulte Auge aus den Neumen auch die Weise des Singens in der frühesten Fassung herauslesen“ (S. 101).
Zunächst ist die Bezeichnung „Choralstücke“ sehr unglücklich, denn es handelt sich nicht um Instrumentalstücke, sondern um Gesänge. Aus der Neumenhandschrift lässt sich nur der Zeitpunkt der Niederschrift bestimmen, für das Alter des Gesangs gibt die entsprechende Texthandschrift einen Anhaltspunkt. Davor steht aber noch die mündliche Überlieferung. Die „Weise des Singens in der frühesten Fassung“ können Zisterzienser leider nicht aus ihren Handschriften „herauslesen“, weil ihre Choralfassung erst aus dem 12. Jahrhundert stammt. Ist da etwa eine gewisse Abneigung gegen das Singen nach Neumen zu spüren? Im Literaturverzeichnis ist zwar das Graduale Triplex von 1979 aufgeführt, aber es fehlt das Graduale Novum von 2011/2018, das die Neumen von St. Gallen und Laon in hervorragender Weise wiedergibt.
„Das Vier-Linien-System, das Guido [von Arezzo] verwendet hat, um den Choral zu verschriftlichen, ist eine riesige Erleichterung für alle Musiker und Sänger gewesen. Es war von da ab nicht mehr notwendig, die Lieder stundenlang auswendig zu lernen – die Noten standen schwarz auf weiß auf dem Papier und konnten von geschulten Sängern direkt vom Blatt gesungen werden“ (S. 101).
Der Choral wurde von Guido nicht verschriftlicht, denn es existierte mit der Neumenschrift bereits eine mehr oder weniger genaue Niederschrift der Melodien. Der angebliche Gewinn durch die spätere Quadratnotation wurde durch den Verlust der rhythmischen Angaben in den Neumen teuer bezahlt. Der Gregorianische Choral wurde zum Cantus planus (= flach, platt, eben). Die Verwendung der Bezeichnung „Lied“ in diesem Zusammenhang stammt aus jenen Schichten, die jede gesungene Äußerung als „Lied“ bezeichnen. Herr Pater, Ihre Kollegen vom Benediktinerorden sahen das Singen in der Schola als Lebensaufgabe. Sie lernten nicht nur „stundenlang“, sondern lebenslang die über 8000 Gesänge des Repertoires. Blattsingen war nicht angesagt, weil die Schola gar keine Blätter in Händen hatte. Die Seiten z.B. im Einsiedler Kodex 121 waren auch so klein (10,5 x 15,7 cm), dass nur der Kantor einen Blick darauf werfen konnte.
„Damit wollten sie [die fränkischen Gelehrten des Karolingerreiches] ihre Singweise als die verkaufen, die Gregor der Große verfasst hatte, und damit beweisen, dass ihre Interpretation die einzig richtige war. Der fränkische Gesang war also damit zum „Gregorianischen Gesang“ geworden“. (S. 107)
Richtig ist: Der einfache römische Gesang, den Gregor der Große nicht „verfasst“, sondern nur neu organisiert hatte, wurde im Frankenreich überarbeitet und mit Hilfe der Marke „Gregor praesul“ (= Vortänzer; Meister; Bischof; im Buch „Vorsteher“) überall so erfolgreich verbreitet, dass vom römischen Choral außerhalb von Rom nichts mehr zu hören war.
„Diese Auseinandersetzung [zwischen Römern und Franken] wurde durch die Entwicklung der Notenschrift und durch theologiegeschichtliche Interpretationen zugunsten einer gemeinsamen Auslegung entschieden“ (S. 108).
Was der Autor hier meint, bleibt einem Leser ohne musikwissenschaftlichen und theologiegeschichtliche Kenntnisse verborgen. Sehr erhellend dagegen wäre die Abbildung von Gregor & Taube aus dem Hartker-Antiphonar gewesen. Aber Hartker (um 1000) war Benediktiner in St. Gallen; er lebte noch vor der Gründung des Zisterzienserordens (1098).
„Das Latein ist eine sehr vokalreiche Sprache. Die Vokale a, e, i, o und u kommen besonders häufig vor. Melismen, also Tonfolgen, die auf einer Silbe gesungen werden, bedürfen eines Vokals – einen Konsonanten kann man nicht singen“ (S. 112).
In welcher Sprache kann man einen Konsonanten singen?
„Der Gregorianische Choral ist eine Übersetzung der Bibel in die Sprache der Musik, eine Übertragung in zeitlose und formvollendete Melodien.… Choral ist musikalische Verkündigung, das Wort Gottes in schöne Musik geformt“ (S. 135).
Was sind zeitlose und formvollendete Melodien? Stammen die Melodien mit ihren Kirchtonarten nicht aus dem 8. Jahrhundert? Wer behauptet, dass sie auch in das 21. Jahrhundert passen? Ist ihre Form nicht von den Formen der Liturgie abhängig? Was ist schöne Musik? Es gibt sie auch zum Träumen, zum Entspannen, zum Nachdenken, zum Loslassen, zum Tanzen.
„Der Gregorianische Choral ist die Musik zu diesen Texten [Psalmen]. Hier haben Text und Melodie zu Liedern zusammengefunden, in denen sich Musik und Inhalt gegenseitig voll zur Geltung bringen“ (S. 140).
Richtig ist: Zu den Psalmtexten wurden entsprechend der vorgegebenen Gesangsform (keine „Lieder“) aus einem Bestand von Formeln Melodien geschaffen. Wie „sich Musik und Inhalt gegenseitig voll zur Geltung bringen“, müsste dann jeweils an den folgenden (vier!) Notenbeispielen gezeigt werden.
RORATE COELI (im Text und im Notenbeispiel in Zisterzienserfassung: caeli; S. 156)
Es findet sich leider kein einziger Satz zum Verhältnis von Melodie zu Text. Stattdessen wird Bezug genommen auf “Wham: Last Christmas I gave you my heart”.
CHRISTUS FACTUS EST (im Notenbeispiel in Zisterzienserfassung als Responsorium bezeichnet)
„Musikalisch sind die Inhalte der Erniedrigung und der Erhöhung wunderbar gestaltet. Die Melodie zu Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem, mortem autem crucis ist tief, bedächtig und schlicht gehalten. Um dann ganz aufzuschwingen in jubelnde, euphorische Freude, in der das Propter quod et Deus exaltavit illum et dedit illi nomen, quod est super omne nomen gesungen wird. Der Gregorianische Choral als eine musikalisch-meditative Bibelbetrachtung, das wird bei diesem Stück besonders deutlich“ (S. 162).
Sowohl das Responsum als auch der Vers bestehen aus Formeln, die auch in den restlichen 49 Graduale im fünften Modus verwendet werden. Erst eine Analyse der kunstvollen Verwendung der Formeln kann die besondere Ausdruckskraft dieses Graduale zeigen.
DAS HALLELUJA VOM OSTERSONNTAG (Notenbeispiel in Zisterzienserfassung)
Kein einziger Satz zum Text-Melodie-Verhältnis.
SALVE REGINA (Notenbeispiel in Zisterzienserfassung)
„ Und dann erklingt in den alten zisterziensischen Weisen dieses poetische Lied aus unserm Chorgestühl im ganzen weiten Kirchenraum“ (S. 167).
„Die Melodien, die der Choral für diesen Text geschaffen hat, muss man gehört haben, um zu wissen, dass der Blick der Barmherzigkeit echte Erfahrung und starker Trost ist, auch heute“ (S. 170).
Das Salve Regina ist kein „Lied“, sondern eine Marianische Antiphon (≈ Hymnus). Die auf S. 173 abgedruckte Melodiefassung aus dem Gotteslob wurde aus diesem Grund nicht in das Lexikon „Die Lieder des Gotteslob“ aufgenommen. Die Melodie stammt von Henri Du Mont (1610-1684), ursprünglich taktmäßig und im Wechsel von Viertel- und Halbe-Noten. Erst die Solesmenser Schule hat die Melodie gregorianisiert und äqualistisch geformt.
Wer nicht ein ausgesprochener Fan von Heiligenkreuz ist, dem kann das Buch nicht empfohlen werden.
Anton Stingl jun.