Der jambische Fünfheber ist ein aus fünf Jamben bestehendes Metrum. Er tritt im Deutschen ungereimt vornehmlich in der Bühnendichtung auf. In Kirchenliedern wird er äußerst selten verwendet, was wohl daran liegt, dass die Hauptbetonung in einer Zeile nicht immer bei derselben Hebung liegt. Bei Strophenliedern ist es aber dringend erforderlich, dass die Hauptbetonung immer an derselben Stelle sitzt. Wie im gegenteiligen Fall falsche Betonungen entstehen, wird an vier Liedern aus dem Gotteslob 2013 gezeigt.
1) Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr (GL 422)
1. Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen.
2. Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?
3. Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
und das mich führt in deinen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt,
und lass mich unter deinen Kindern leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.
Huub Oosterhuis wählte für sein Lied als Versmaß einen jambischen Fünfheber mit sechs Zeilen. Lothar Zenetti erreicht mit seiner Übersetzung eine fast vollkommene Übereinstimmung der Hauptbetonungen mit den entsprechenden Hebungen. In der ersten Zeile liegt die Hauptbetonung in allen drei Strophen auf der ersten Hebung, in den restlichen Zeilen auf der zweiten Hebung. Zu den wenigen Ausnahmen gehört in Strophe 2, Zeile 2 das Wort Unvermögen, das normalweise auf der ersten Silbe betont wird. Durch die Korrektur ich bin gefangen in mein Unvermögen käme die Hauptbetonung auf die zweite Hebung zu liegen. Alex Stock begeht in seiner Übertragung aus der Sammlung der 100 Lieder und Gesänge von Osterhuis „Du Atem meiner Lieder“ denselben Fehler: mein Unvermögen hält mich eingefangen. In Strophe 3, Zeile 4 liegt auf der Präposition unter bestimmt nicht die Hauptbetonung. Durch die Wortumstellung und unter deinen Kindern lass mich leben läge die Hauptbetonung wie in den anderen Strophen auf der zweiten Hebung. Hier setzt Stock mit einer ganz anderen Übertragung die Hauptbetonung auf dieselbe Hebung: verschwende menschenfreundlich deine Liebe.
2) Von guten Mächten treu und still umgeben
1. Von guten Mächten treu und still umgeben, (2)
behütet und getröstet wunderbar, (13)
so will ich diese Tage mit euch leben (23)
und mit euch gehen in ein neues Jahr. (12)
2. Noch will das alte unsre Herzen quälen, (2)
noch drückt uns böser Tage schwere Last. (23)
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen (123)
das Heil, für das du uns geschaffen hast. (12)
3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern (12)
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, (12)
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern (123)
aus deiner guten und geliebten Hand. (2)
4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken (13)
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, (23)
dann wolln wir des Vergangenen gedenken, (13)
und dann gehört dir unser Leben ganz. (2)
5. Lass warm und hell die Kerzen heute flammen, (12)
die du in unsre Dunkelheit gebracht, (23)
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen. (2)
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht. (13)
6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, (2)
so lass uns hören jenen vollen Klang (23)
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, (2)
all deiner Kinder hohen Lobgesang. (2)
7. Von guten Mächten wunderbar geborgen, (2)
erwarten wir getrost, was kommen mag. (13)
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen (2)
und ganz gewiss an jedem neuen Tag. (2)
Der Kirchenmusiker Kurt Grahl verfasste seine Melodie (GL 430) unter unter der Annahme, dass in dem Text von Dietrich Bonhoeffer die Hauptbetonnung stets der zweiten Hebung liegt. Das erweist sich bis auf vier Stellen als richtig.
1,2: behütet und getröstet wunderbar. Die Konjunktion und trägt hier keinen Hauptakzent. Mögliche Akzente sind behütet oder getröstet.
4,3: dann wolln wir des Vergangenen gedenken. Der Artikel des trägt keinen Akzent. Die Hauptbetonung liegt beim Substantiv Vergangenen.
5,4: Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht. Auf dem Pronomen es liegt keine Hauptbetonung, die erst bei Licht zum Zuge kommt.
7,2: erwarten wir getrost, was kommen mag. Das Personalpronomen wir taugt nicht als Hauptbetonung, die erst bei getrost zu hören ist.
Die Verteilung der Taktstriche bei der Melodie von Grahl ist seltsam. Als wolle der Komponist seine rhythmisch richtige Vertonung des Textes verbergen, setzt er die Taktstriche vor die dritte Hebung. Sie müssten aber wegen der Hauptbetonung vor der zweiten Hebung stehen. In diesem Fall begänne die Melodie mit einem langen Auftakt und endete mit einer Halben.
Der Liedermacher Siegfried Fietz brachte 1970 zu Bonhoeffers Text eine Melodie heraus (GL FR/RS 775), die unter der irrtümlichen Annahme steht, dass die Hauptbetonung stets auf der ersten Hebung liegt. Das hatte zur Folge, dass in sechzehn Fällen die Hauptbetonungen unter den Tisch fallen und damit der Sinn des Textes verfälscht wird. Ein weiteres Problem entsteht durch die zum Teil überlangen Pausen zwischen den Versen. Wenn die Melodie eines Verses mit einem kurzen Auftakt beginnt und mit einem zweisilbigen Wort endet, setzt der nächste Vers erst nach zwei Grundschlägen ein. Wenn der Vers mit einem einsilbigen Wort endet, sind es sogar vier Schläge. Grahl hat dieses Problem gelöst, indem er in den ersten drei Versen bei den Hauptbetonungen und im letzten Vers bei der vorletzten Hebung zwei aufeinanderfolgende Notenwerte verdoppelte.
Im Evangelischen Gesangbuch steht eine Melodie von Otto Abel (EG 65). Durch geschickte Abwechslung von zwei Halben zwischen zwei oder vier Vierteln erreicht der Komponist eine fast vollkommene Übereinstimmung der Melodie mit den Hauptbetonungen. Problematisch ist nur wie bei Grahl in Strophe 4, Zeile 3: dann wolln wir des Vergangenen gedenken.
3) Für alle Heilgen in der Herrlichkeit (GL 548)
1. Für alle Heilgen in der Herrlichkeit,
die dich bezeugten in der Erdenzeit,
sei dir, o Jesu, Lob in Ewigkeit.
Halleluja, Halleluja!
2. Du warst ihr Fels, ihr Schutz und ihre Macht,
warst ihnen Trost und Licht in dunkler Nacht,
und hast zur ewgen Freude sie gebracht.
3. So lass auch uns, die noch auf Erden gehn,
fest wie die Heilgen unser Werk bestehn,
in deinem Kreuz den Kranz des Lebens sehn.
4. O Jesu, mach uns alle eins in dir!
Sie schon vollendet – angefochten wir;
doch alle dein, dich lobend dort und hier.
5. Dein Tag bricht an. Die Heilgen sind bereit,
geben dem Volk der Zeugen das Geleit,
und alle singen der Dreieinigkeit.
Die Übertragung des Textes „For all the Saints“ von William Walsham How (1864) durch Günter Balders (1998) und Christoph Bächthold (2001) im jambischen Fünfheber ist fast perfekt gelungen. Mit einer einzigen Ausnahme sitzt die Hauptbetonung überall auf der zweiten Hebung. Nur in der 2. Strophe, Zeile 3 trägt das Adjektiv ewgen nicht die Hauptbetonung. Ausgerechnet an dieser Stelle markiert die Melodie von Ralph Vaughan Williams nach einem Quintsprung nach oben mit der Note c als punktierte Halbe eine sehr starke Betonung. Mit dem Korrekturvorschlag hast sie zur Freude ewiglich gebracht könnte man das bereinigen.
4) In dieser Nacht (GL 91)
1. In dieser Nacht,
sei du mir Schirm und Wacht;
o Gott, durch deine Macht
wollst mich bewahren
vor Sünd und Leid,
vor Satans List und Neid.
Hilf mir im letzten Streit,
in Todsgefahren.
2. O Jesu mein,
die heilgen Wunden dein
mir sollen Ruhstatt sein
für meine Seele.
In dieser Ruh
schließ mir die Augen zu;
den Leib und alles Gut
ich dir befehle.
3. O große Frau,
Maria, auf mich schau;
mein Herz ich dir vertrau
in meinem Schlafen.
Auch schütze mich,
Sankt Josef, väterlich.
Schutzengel, streit für mich
mit deinen Waffen.
Der Text des Liedes (Köln 1727) verwendet als Metrum einen jambischen Zweiheber, dem zwei Verse mit Dreiheber folgen, die mit dem ersten Vers durch einen Kettenreim verbunden sind. Mit dem vierten Vers, einem Zweiheber, wird die erste Strophenhälfte abgeschlossen. Die zweite gleichgebaute Strophenhälfte endet mit einem Vers, der denselben Reim wie in Vers 4 verwendet. Die Hauptbetonungen liegen bei den Zwei- bzw. Dreihebern jeweils auf der ersten Hebung. In der 2. Strophe, Zeile 3 kommen Zweifel auf, ob nicht Ruhstatt die Hauptbetonung trägt. Wenn man aber bedenkt, dass der dritte Vers die zweite weiterführt, erscheint „sollen“ doch als wichtiges Wort, das die beiden Verse verbindet. Im vorletzten Vers von Strophe 3 fällt „Schutzengel“ mit seiner Betonung auf der zweiten Silbe auf, der heutzutage auf der ersten Silbe betont wird. Die ältere gegenteilige Betonung findet man heute noch zum Beispiel im folgenden Gebet zum Schutzengel:
Heiliger Schutzengel mein,
lass mich dir empfohlen sein
in allen Nöten steh mir bei
und halte mich von Sünden frei.
An diesem Tag/In dieser Nacht, ich bitte dich,
erleuchte, führe, schütze mich.
Amen.
Hermann Kurzke bemängelt in „Die Lieder des Gotteslob“ (S. 591), dass in der Notation des Lieds in Gotteslob entgegen der ältesten Melodiequelle (Düsseldorf 1759) nicht nach jeder Zeile geatmet werden kann. In der Entstehungszeit wurde das Abendlied vermutlich viel langsamer gesungen als heute, somit waren Pausen nach jedem Vers vielleicht notwendig. Nachdem das Lied durch die katholische Jugendbewegung um 1920 weithin beliebt wurde, wo man es in einem rascheren Tempo sang, wurde es schließlich 1938 in „Kirchenlied“ mit der neuen Notation veröffentlicht, die jeweils einen Zwei- und einen Dreiheber zu einem jambischen Fünfheber zusammenfasst, dem eine Pause folgt. Die zahlreichen Enjambements laden zu dieser Veränderung geradezu ein.
Der Text in Strophe 2, Zeile 3/4 und 7/8 hieß ursprünglich, so auch noch in Kirchenlied 1938:
mir sollen Ruhstatt sein, / das Bett der Seelen. – den Leib und alles tu / ich dir befehlen.
In den Einheitsliedern von 1947 wurde der Seele das Bett genommen:
mir sollen Ruhstatt sein für meine Seele. – den Leib und alles tu‘ ich dir befehlen.
Das Gotteslob 1975 korrigierte den unsauberen Reim und führte ein nicht näher zu bestimmendes „Gut“ ein:
mir sollen Ruhstatt sein für meine Seele. – den Leib und alles Gut ich dir befehle.
Hoffentlich hat die arme Seele jetzt endlich ihre Ruhe gefunden (Lukas 12, 19).
Ein weiteres Beispiel siehe in „Der Herr wird dich mit seiner Güte segnen“ (GL 452).
Anton Stingl jun.